© Claudia Nacci Coaching

Ärztinnen im Krankenhaus – Umfrageergebnisse aus Deutschland

Arbeiten am Limit?

Die Umfrage «Ärztinnen im Krankenhaus – Arbeiten am Limit 2023» visualisiert zentrale persönliche und strukturelle Herausforderungen, mit denen sich Ärztinnen in Deutschland jeden Tag aufs Neue konfrontiert sehen. Zahlreiche Problemstellungen sind auch für die Arbeit in der Klinik, aber auch der Niederlassung in der Schweiz relevant. Es zeigt sich nicht nur die Notwendigkeit der Verbesserung, sondern auch viel Potenzial. Gefragt ist ein offener Dialog, von dem Mediziner beiderlei Geschlechts profitieren könnten.

Wir sprachen mit der Initiatorin der Umfrage, Claudia Nacci, die in ihrer Arbeit als zertifizierter systemischer Coach schon mit zahlreichen Ärztinnen zusammengearbeitet hat.

Wie kam es zur Befragung?

C. Nacci: Die Idee entstand, als eine junge Ärztin und Mutter von zwei kleinen Kindern zu mir ins Coaching kam und Klarheit darüber brauchte, wie es für sie beruflich weitergehen solle. Sie stand vor der Frage, ob sie ins Krankenhaus zurückkehren oder etwas ganz Neues beginnen sollte. Die Medizinerin war unsicher, ob sie im Krankenhaus den Anschluss wiederfände, dem Druck standhalten könne und wie die Kollegen ihre Rückkehr aufnehmen würden. Zudem fragte sie sich, ob sie alles unter einen Hut bringen kann: Kinder, Krankenhaus und alle Verpflichtungen drumherum. Was mich jedoch persönlich sehr berührt hat, war der grosse Selbstzweifel an sich und ihren eigenen Kompetenzen.

Abb. 1: Aus der Umfrage zu belastenden Situationen im Arbeitsumfeld ergibt sich, dass 66% der teilnehmenden Ärztinnen bestimmte Situationen als körperlich und mental belastend empfinden (mod. nach Nacci C)1

Ich wiederum stellte mir die Frage, wie es sein kann, dass eine so hochqualifizierte Ärztin an sich zweifelt! Danach kamen weitere Ärztinnen zu mir mit ähnlichen oder gleichen Themen. Ich wurde immer aufmerksamer und neugieriger und fragte mich, was noch dahintersteckt. Das war dann auch meine Motivation, tiefer zu forschen und zu erfahren, was die Ärztinnen beschäftigt, was ihre Themen und Herausforderungen sind. So entstand die Idee für eine Befragung, um konkrete Coaching-Angebote zu entwickeln und diese den Ärztinnen anbieten zu können.

Was sind die zentralen Ergebnisse?

C. Nacci:Die wichtigsten Ergebnisse der Befragung zeigen mehrere grundlegende persönliche und strukturelle Herausforderungen, mit denen Ärztinnen täglich konfrontiert sind und die sich in körperlichen sowie mentalen Symptomen bemerkbar machen. Auf psychischer Ebene leiden viele Ärztinnen unter Schlafstörungen, körperlicher Erschöpfung, Dünnhäutigkeit und Schwierigkeiten, nach Feierabend abzuschalten. Körperliche Symptome wie Nackenverspannungen, Rückenschmerzen und Herz-Kreislauf-Probleme treten als direkte Konsequenzen der hohen psychischen und physischen Arbeitsbelastung auf. Zusätzlich belasten Zeitdruck, Personalmangel, hoher administrativer Aufwand und strukturelle Hürden auf dem beruflichen Karriereweg die Ärztinnen. Das gilt sicher nicht nur für Deutschland, sondern auch in anderen Ländern, in denen der demografische Wandel vermehrt zu Personalengpässen und dadurch zu mehr Druck für den Einzelnen bzw. die Einzelne führt.

Das immer noch tief verwurzelte Stereotyp des männlichen Arztes und verkrustete Dynamiken können die Karriereentwicklung von Ärztinnen erheblich behindern. Dies führt z.B. dazu, dass Frauen in den Führungsetagen vieler Kliniken nach wie vor unterrepräsentiert sind. Das ist für die Medizinerinnen frustrierend. Auch die Schweiz ist nicht frei von dieser Problematik, wenn die Lage auch etwas besser zu sein scheint als in Deutschland.

Tab. 1: Schritte zur Verbesserung der Situation von Ärztinnen in der Klinik (mod. nach Nacci C)2

Weitere Herausforderungen, unter denen Mediziner beiderlei Geschlechts leiden, umfassen die grosse Verantwortung, administrative Aufgaben und begrenzte Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung. Grundsätzlich stellt für beide Seiten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine grosse Schwierigkeit dar. Ein zusätzlicher Faktor ist der Mangel an Erholung und Pausen. Obwohl 68% der Ärztinnen angeben, etwas für ihren Ausgleich zu tun, fehlt ihnen oft die Zeit, sich angemessen um diesen Ausgleich zu kümmern. Erschöpfung und mangelnde Regelmässigkeit werden von jeder sechsten Ärztin als Gründe genannt, warum sie keine ausgleichenden Aktivitäten durchführt.

Wie viele schätzen ihre Arbeitssituation als belastend ein? Über welche Symptome wird berichtet?

C. Nacci: Die Umfrage zu belastenden Situationen am Arbeitsplatz ergab, dass 66% ihre Arbeitssituation als belastend empfinden, sowohl körperlich als auch mental. Bei den im Kontext der intensiven Belastung beschriebenen Symptome nennen 54% eine schlechte Schlafqualität und körperliche Erschöpfung. Auf Platz zwei folgen Herz-Kreislauf-Probleme, Nackenverspannungen und Rückenschmerzen. Unter den Ärztinnen geben 70% an, unter Vergesslichkeit, Dünnhäutigkeit und Gereiztheit zu leiden. Des Weiteren berichten 40% der Befragten, nach Feierabend nicht abschalten zu können, 20% fühlen sich energielos.

Welche Situationen werden insbesondere als schwierig empfunden?

C. Nacci: Männliche Stereotype und hierarchische Strukturen stellen eine erhebliche Herausforderung im Alltag von Ärztinnen dar. Etwa 58% der Befragten nennen Arbeitsüberlastung, hierarchische Strukturen und ein männlich dominiertes Umfeld als Hauptprobleme. Diese fest verankerten Dynamiken beeinflussen weiterhin die Karriereentwicklung von Ärztinnen. Es handelt sich nicht um blosse Vorurteile, sondern um reale Hindernisse im beruflichen Alltag. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie mangelnde Erholungspausen, Arbeitsüberlastung und Personalmangel stellen weitere Schwierigkeiten dar, von denen sicher beide Geschlechter betroffen sind. Auch hier sind Veränderungen dringend notwendig.

Mögliche Lösungsansätze liegen in strukturellen Veränderungen und einem offenen Dialog über bestehende Probleme. Darüber hinaus ist die Förderung sozialer Kompetenzen in der medizinischen Ausbildung ebenso wichtig wie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen vor Ort. Ein ganzheitlicher Ansatz ist erforderlich, der die physische und mentale Gesundheit der Ärztinnen und auch ihrer männlichen Kollegen fördert und den Austausch im Gesundheitswesen verstärkt, um langfristige Verbesserungen zu erreichen.

Work-Life-Balance im Arztberuf–ist das realistisch?

C. Nacci: Die Frage ist relevant und notwendig, da viele Ärztinnen und Ärzte von einer Verbesserung der Bedingungen profitieren könnten. Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, dass die Mehrheit der Ärztinnen aktiv versucht, einen Ausgleich zu finden, trotzdem gibt es erhebliche Hindernisse wie Zeitmangel, die viele daran hindern, ausreichend Erholung und Pausen zu bekommen. Deshalb würde eine verbesserte Work-Life-Balance zahlreiche Vorteile mit sich bringen. Regelmässige Pausen und ausreichende Erholung steigern die Arbeitszufriedenheit und Motivation, was sich positiv auf die Patientenversorgung auswirkt und gleichzeitig die Burnoutrate senkt. Ausserdem hilft eine ausgewogene Balance zwischen Arbeit und Freizeit, chronische Erschöpfung zu vermeiden, was die Gesundheit der Medizinerinnen und Mediziner verbessert.

Welche Lösungsansätze gibt es?

C. Nacci: Es braucht einen grundlegenden Wandel, um die langfristige und nachhaltige persönliche Entwicklung von Ärztinnen zu fördern. Dies erfordert Veränderungen auf struktureller und gesellschaftlicher Ebene sowie einen offenen Dialog über bestehende Herausforderungen und unterstützende Umgebungen. Die medizinische Ausbildung muss sowohl fachliche als auch soziale Kompetenzen entwickeln, um zukünftige Herausforderungen besser bewältigen zu können. Die Gesamtanalyse der Befragung zeigt, dass eine ganzheitliche Herangehensweise notwendig ist. Diese sollte nicht nur Verbesserungen der Arbeitsbedingungen für beide Geschlechter umfassen, sondern auch die Förderung der mentalen und physischen Gesundheit der Ärztinnen berücksichtigen. Ein verstärkter Austausch zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen ist unerlässlich, um gemeinsam eine positive und unterstützende Arbeitsumgebung zu schaffen und eine nachhaltige Verbesserung zu erreichen!

Praxistipp

Claudia Nacci organisiert fortlaufend alle 14 Tage Online-Gruppentreffen für Ärztinnen zu ihren speziellen Themen.

Anmeldung und Teilnahme sind kostenfrei.

Über die Befragung

Die Ergebnisse der Umfrage «Ärztinnen im Krankenhaus – Arbeiten am Limit 2023» visualisieren, in welcher anspruchsvollen Arbeitsumgebung Ärztinnen tätig sind und wie diese zu physischer und psychischer Erschöpfung führen kann. Eine dringende Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene ist notwendig und erfordert langfristige Lösungen. Die zuständigen Akteure im Gesundheitswesen sind gefragt, neue Ansätze zu entwickeln und umzusetzen, um systemische Veränderungen zu fördern und langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Andernfalls ist zu erwarten, dass Medizinerinnen ihr Know-how und ihre Ressourcen in erheblichem Masse aus dem Krankenhausbetrieb abziehen und sich in niedergelassenen Praxen und anderen Branchen engagieren – oder statt in die Schweiz zu kommen (z. B. aus Deutschland) in medizinische Beschäftigungen in anderen Ländern abwandern.
Design: Fach- und Oberärztinnen, (leitende) Chefärztinnen, leitende Ärztinnen und Assistenzärztinnen in Krankenhäusern innerhalb Deutschlands; n = rd. 50
Methode: persönlich geführte, fragebogengestützte Tiefeninterviews, Dauer jeweils 30–70 min, durchgeführt via Zoom-Video
Umfragezeitraum: Januar bis Oktober 2023

1 Nacci C: Studie: Ärztinnen im Klinikalltag. Zwischen Grenzerfahrung und Traumberuf. HCM Jg. 15. 2/24 2 Nacci C: Ärztinnen im Krankenhaus – Arbeiten am Limit 2023. Januar 2024, Hamburg

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