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Nationale Koordination seltene Krankheiten (Kosek)

Bessere Versorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten

Mit Kosek besteht seit einigen Jahren eine nationale Koordinationsplattform für seltene Krankheiten in der Schweiz. Primäres Ziel ist, die Patientenversorgung zu verbessern. Einiges wurde schon erreicht, doch es bestehen weiterhin viele Herausforderungen für Patienten und behandelnde Ärzte, wie Kosek-Vorstandsmitglied PD Dr. med. Stefan Bilz im Interview ausführt.

Herr Dr. Bilz, wie viele Patienten leiden an einer seltenen Krankheit?

S. Bilz: Definitionsgemäss ist eine Krankheit selten, wenn die Prävalenz weniger als 1:2000 beträgt. In der Schweiz gibt es etwa 600000 betroffene Patienten, weltweit sind es etwa 3 Millionen. In der grössten globalen Datenbank Orphanet sind 6000 bis 8000 seltene Krankheiten erfasst, davon 500 bis 600 aus dem endokrinologischen Bereich.

Wie viele seltene Krankheiten es gibt, hängt aber auch von der Definition ab. Je nach Ausprägung kann eine Krankheit beispielsweise als Variante einer seltenen Erkrankung oder als eigenständige Diagnose aufgeführt sein. Zudem kommen immer neue seltene Erkrankungen hinzu. Das liegt daran, dass es immer wieder gelingt, für Symptomkomplexe oder Krankheitsbilder eine genetische Erklärung oder eine pathophysiologische Grundlage zu finden. Daten aus den USA zeigen, dass bei circa 25% der Patienten mit Verdacht auf eine bislang unerkannte seltene Krankheit durch die Abklärung in spezialisierten Zentren eine erklärende Diagnose gefunden werden kann. Ähnliches versuchen wir auch in der Schweiz. Kosek hat dazu neun Zentren für undiagnostizierte seltene Krankheiten eingerichtet, hinter denen vor allem die grossen Spitäler stehen.

Wie stark spielt die Genetik eine Rolle?

S. Bilz: Wir gehen davon aus, dass etwa drei Viertel der seltenen Krankheiten eine genetische Grundlage haben. 60% bis 70% dieser vererbten Krankheiten zeigen sich bereits im Kindesalter. Doch wir haben auch immer wieder Patienten, die über viele Jahre Beschwerden haben und erst im fortgeschrittenen Alter eine korrekte Diagnose erhalten.

Lassen sich seltene Krankheiten auch klassifizieren?

S. Bilz: Im Orphanet und im Europäischen Netzwerk für Rare Diseases wurden seltene Krankheiten bereits gruppiert. Die europäischen Netzwerke für seltene Erkrankungen haben 24 Gruppen identifiziert. Die Kosek orientiert sich an der Einteilung der europäischen Netzwerke.

Besonders wichtig ist es aber auch, bereits bestehende Expertennetzwerke und -organisationen zu integrieren. Viele seltene Krankheiten betreffen mehrere Organsysteme, was eine Zusammenarbeit verschiedener Fachärzte und Kliniken erforderlich macht. Das Von-Hippel-Lindau-Syndrom (VHL-Syndrom) beispielsweise kann mit Tumoren in der Bauchspeicheldrüse, im Gehirn, in der Nebenniere oder im Innenohr einhergehen. Entsprechend viele Fachärzte und Kliniken sind involviert. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist herausfordernd und für eine gute Patientenversorgung essenziell. Bei der zystischen Fibrose, die primär die Lunge betrifft, übernimmt im Alltag in der Regel ein Pneumologe die Führung. Die betroffenen Patienten brauchen jedoch oft auch einen Gastroenterologen, einen Endokrinologen und einen Infektiologen. Hinzu kommen weitere Fachpersonen, wie etwa für die Ernährungsberatung und/oder die Atem-Physiotherapie.

Was bedeutet es für Patienten, eine seltene Krankheit zu haben, ausser dass sie von vielen verschiedenen Fachkräften betreut werden?

S. Bilz: Oft verstreichen viele Jahre, bis die Patienten die richtige Diagnose bekommen. Nicht selten werden zwei oder gar drei falsche Diagnosen gestellt und die Patienten entsprechend nicht optimal behandelt.

Nicht immer ist es möglich, eine seltene Krankheit gleich auf Anhieb zu erkennen. Die Symptome können anfänglich sehr subtil sein und fluktuierend auftreten. Ein weiteres Problem ist der Mangel an zielgerichteten pathophysiologisch begründeten Therapien, die die Krankheit günstig beeinflussen oder sogar verbessern. Tatsächlich stehen wir manchmal vor dem Problem, dass wir die Ursachen für ein angeborenes Syndrom kennen, aber mangels Therapieoptionen den Patienten nur eine unterstützende Behandlung anbieten können.

Auch der Zugang zu einer Therapie ist mitunter ein Problem. Wir kennen seltene Krankheiten, für die wir eine Behandlung haben, die aber von den Kassen nicht vergütet wird. In St. Gallen beschäftigt uns gerade ein solcher Fall. In einer Familie konnten wir gleich bei mehreren Kindern eine zerebrotendinöse Xanthomatose diagnostizieren. Das ist eine vererbte, seltene Störung der Gallensäuresynthese, bei der es im Gehirn und anderen Geweben zur Ablagerung von Sterolen und im Erwachsenenalter zu progredienten neurologischen Funktionsstörungen kommt. Für diese Krankheit gibt es mit der Chenodesoxycholsäure schon seit vielen Jahren eine einfache Therapie. Für die Therapie wird mit circa 25000 Franken pro Monat ein derart hoher Preis verlangt, dass die Krankenkassen eine Vergütung ablehnen.

Wo setzt die Kosek bei diesen vielen Herausforderungen genau an?

S. Bilz: Das primäre Ziel ist, die Versorgungsqualität für Patienten zu verbessern. Dazu wurden und werden grosse Anstrengungen unternommen, um Wissen und Expertise in den Netzwerken zusammenzubringen und allgemein zugänglich zu machen. Zu den vorhin bereits erwähnten neun Zentren für noch nicht diagnostizierte seltene Erkrankungen kommen nun die krankheitsspezifische Referenzzentren für seltene Erkrankungen hinzu. Jene für seltene Stoffwechsel- und neuromuskuläre Krankheiten wurden bereits anerkannt. Zahlreiche weitere Bewerbungen sind zurzeit in Evaluation oder gerade eben eingegangen, wie auch jene aus der Endokrinologie, meinem Fachgebiet.

Federführend im Experten-Netzwerk für seltene endokrine Erkrankungen sind Sie als Endokrinologe aus St. Gallen und Ihr Kollege Prof. Dr. med. Gabor Szinnai aus Basel. Wie arbeiten sie konkret in diesem Endokrinologie-Netzwerk, um die Patientenversorgung zu verbessern?

S. Bilz: Wir haben im Februar das erste «Rare Disease Case Board» durchgeführt, an dem rund 80 Endokrinologen aus der ganzen Schweiz teilgenommen haben. An dieser Videokonferenz haben wir den ersten Patientenfall mit einer seltenen endokrinen Krankheit diskutiert und gemeinsam eine Empfehlung erarbeitet. Solche Fallbesprechungen wollen wir einmal monatlich durchführen. Natürlich ist es so, dass sich Ärzte schon lange auch über seltene Krankheiten austauschen. Neu ist, dass dieser Austausch nun formalisiert stattfindet und so nicht nur die Meinung von einem Spezialisten eingeholt werden kann, sondern gleichzeitig von mehreren.

Wer gilt als Experte?

S. Bilz: Hierfür gibt es, glaube ich, keine anerkannte Definition. Entscheidend ist es meines Erachtens, das Wissen und die Erfahrungen aus Klinik und Forschung zusammenzubringen, eben zu vernetzen. Wenn alle ihre Erfahrungen beitragen, profitieren die Patienten am meisten. Dieses Wissen und diese Expertise, die wir im Netzwerk gebündelt haben, wollen wir Ärzten und Patienten niederschwellig zur Verfügung stellen.

Es geht bei den seltenen Krankheiten aber nicht nur um medizinische Dienstleistungen, sondern auch um administrative und psychosoziale Unterstützung, den Zugang zu besonderen Leistungen etc. Im Kosek-Netzwerk engagieren sich daher neben Spital- und freipraktizierenden Ärzten etwa auch «ProRaris», der Dachverband für Patientenorganisationen von Menschen mit einer seltenen Krankheit, die Schweizer Akademie der medizinischen Wissenschaften und die Schweizer Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren.

Verfolgt die Kosek auch das Ziel, dass in Zukunft mehr Patienten in Spitälern als in Praxen versorgt werden?

S. Bilz: Nein. Die Spitäler hätten dazu auch gar nicht die Kapazität. Hauptziel ist, wie gesagt, Expertenwissen und Expertisen für die Patienten und ihre behandelnden Ärzte niederschwellig, transparent und unkompliziert zur Verfügung zu stellen. Dabei wollen wir in Zukunft auch mit dem europäischen Netzwerk für Rare Diseases zusammenarbeiten. Es gibt sehr seltene Krankheiten, die in der Schweiz gerade einmal einen oder zwei Patienten betreffen. Durch die Zusammenarbeit mit dem europäischen Netzwerk können wir diesen Patienten vielleicht ermöglichen, an Studien in EU-Staaten teilzunehmen, sodass auch sie früh von neuen Therapieoptionen profitieren können.

Welche Erfolge im Bereich seltene Krankheiten wurden durch Kosek schon erreicht?

S. Bilz: Kosek selbst ist eine grosse Erfolgsgeschichte. Es ist gelungen, schweizweit praktisch alle, die einen Extrabeitrag im Bereich seltene Krankheiten leisten können, mit ins Boot zu holen.

Wir haben aber noch etliche Herausforderungen zu meistern. Ein Problem sind etwa die Abgeltungen. Unsere medizinischen Leistungen werden nicht adäquat bezahlt, vor allem im ambulanten Bereich. Die Betreuung von Patienten mit einer seltenen Krankheit ist anspruchsvoller und aufwendiger als bei anderen Patienten. Eine weitere Aufgabe ist, die Zusammenarbeit mit weiteren Stakeholdern, wie der Pharmaindustrie und den Krankenkassen, zu verstärken. Es nützt nichts, wenn wir eine behandelbare Krankheit diagnostizieren, dem Patienten aber keine Therapie anbieten können, weil sie so teuer ist, dass die Krankenkassen sie nicht bezahlen wollen oder können.

Vielen Dank für das Gespräch!
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