
«Es wäre schön, eine Brücke zu bauen»
Unser Gesprächspartner:
Michael Emmenegger-Müller
Gründer und Co-Präsident
«Leben mit Lungenkrebs»
E-Mail: michael.emmenegger@leben-mit-lungenkrebs.ch
Das Interview führte Ingeborg Morawetz, MA
Michael Emmenegger-Müllers Lungenkrebserkrankung hat sein Leben verändert, aber nicht seine Motivation, sich für andere einzusetzen. Erhat die Organisation «Leben mit Lungenkrebs» gegründet und ist seit einem Jahr Mitglied im SAKK-Patientenrat.
Wie sind Sie zum SAKK-Patientenrat gekommen?
M. Emmenegger-Müller: Vor drei Jahren habe ich selbst eine Patientenorganisation für Lungenkrebsbetroffene gegründet, «Leben mit Lungenkrebs». Es war schnell klar, dass wir uns mit anderen Organisationen vernetzen möchten. So haben wir uns auf die Suche gemacht. Irgendwann bin ich auf die Website der SAKK gestossen, auf der der Patientenrat vorgestellt wurde. Der Rat und seine Aufgaben haben mich sehr angesprochen. Nach einer Besprechung im Vorstand waren wir uns einig, dass wir uns beim SAKK-Patientenrat bewerben wollen. Es gab eine Vorstellungsrunde mit Christine Aeschlimann und den Mitgliedern aus dem Patientenrat. Da konnte ich auch bereits zuschauen, wie gearbeitet wird. Das war für mich besonders interessant, da ich ja nicht aus der klinischen Forschung komme. Ich habe mich schnell entschieden, dass ich da gerne aktiv mitmachen möchte. Die definitive Zusage vonseiten der SAKK kam nach drei Monaten Probezeit.
Was reizt Sie bei der SAKK besonders?
M. Emmenegger-Müller: Besonders interessiert mich zum Beispiel die Öffentlichkeitsarbeit, also auch Veranstaltungen wie das Halbjahrestreffen. Der Austausch mit Forschenden und Besuchern und Besucherinnen, der dort zustande kommt, ist schön zu sehen. Insgesamt gefällt mir die grössere Vernetzung.
Haben Sie sich für die Mitgliedschaft im SAKK-Patientenrat Ziele gesetzt?
M. Emmenegger-Müller: Mir ist die Stimme der einzelnen Patienten und Patientinnen wichtig. Der Fokus soll darauf liegen, dass nicht über sie entschieden wird, sondern mit ihnen zusammen.
Wie kam es zur Gründung von «Leben mit Lungenkrebs»?
M. Emmenegger-Müller: Ich war selber von Lungenkrebs betroffen, im Jahr 2020 habe ich die Diagnose erhalten. Ich bin Familienvater, habe drei Söhne, und ich hatte viele Fragen, über die ich mich mit anderen Betroffenen austauschen wollte. Bald habe ich aber gemerkt, dass es in der ganzen Schweiz keine Patientenorganisation für Lungenkrebs gibt. Die Krebsliga war teilweise zuständig, aber deren Vermittlung eines Gesprächspartners war für mich nicht ausreichend. Medizinisch war ich gut versorgt, aber mir ging es um die persönlichen Fragen: Wie erkläre ich es meinen Kindern? Was kommt auf mich zu? Auf welche Herausforderungen muss ich mich einstellen?
2022 bekam ich dann die Möglichkeit, eine eigene Patientenorganisation auf die Beine zu stellen. Erst waren wir zu zweit, aber relativ schnell kamen Patienten und Patientinnen dazu. Unsere erste Veranstaltung ist auf grosses Interesse gestossen. Als Nächstes kamen der restliche Beirat und der Angehörigenrat. «Leben mit Lungenkrebs» ist rasch gewachsen. Ich denke, das Bedürfnis nach persönlichem Austausch ist unter Betroffenen und Angehörigen sehr gross.
Auch bei «Leben mit Lungenkrebs» haben wir einen Patientenrat, der den Verein überall begleitet: bei öffentlichen Anlassen, bei Events in Kliniken und bei privaten Veranstaltungen. Zwischen uns allen sind Freundschaften entstanden, die über das Thema Lungenkrebs hinausgehen.
Der Patientenrat von «Leben mit Lungenkrebs» hat aber andere Aufgaben als der SAKK-Patientenrat, auch deswegen, weil die Mitglieder weniger Erfahrung mit klinischen Studien haben. Bei uns geht es konkret um die Bedürfnisse des individuellen Menschen. Es wäre schön, eine Brücke zwischen beiden Räten zu bauen.
Welche Events veranstalten Sie mit «Leben mit Lungenkrebs»?
M. Emmenegger-Müller: Es gibt zum Beispiel medizinische Informationsveranstaltungen, Patientenweiterbildungen und den Lungengesundheitstag. Die aktuellen Daten sind auf unserer Website zu finden.
Hatten Sie vor Ihrer Erkrankung eine berufliche Verbindung zum Gesundheitswesen?
M. Emmenegger-Müller: Ich war 20 Jahre in der Suchthilfe tätig, war Wohngruppenleiter und habe mit chronischen Alkoholikern und Drogenabhängigen gearbeitet. Ein wenig medizinisches Grundwissen war also vorhanden, das hat mir schon sehr geholfen. Auch im Aufbau der Organisation war mein Beruf nützlich, ich kannte die Netzwerke und hatte schon einige Kontakte. Auch die Psychoonkologie war mir nicht ganz fremd.
An welchem Punkt der Erkrankung kontaktieren Betroffene Ihre Organisation?
M. Emmenegger-Müller: Viele schreiben uns direkt nach der Diagnosestellung und wollen wissen, was das für sie bedeutet. Das ist manchmal schwierig, da wir die Umstände nicht genau kennen und keine Ärzte sind. Aber wir können darauf hinweisen, dass die Betroffenen den Fachpersonen möglichst viele Fragen stellen und zu den Terminen eine zweite Person mitnehmen sollen, die ebenfalls zuhört und nachfragt.
Später, während der Therapie, haben Menschen dann oft Fragen zu ihren Erfahrungen und zu Nebenwirkungen. Dazu haben wir unter anderem eine Website, auf der Patienten und Patientinnen Berichte hochladen können, die von anderen gelesen werden. Beim Lesen dieser Berichte merken Betroffene, dass es auch anderen so geht wie ihnen, und sie können darauf aufbauend konkret nachfragen.
Sind die Patientenorganisationen gerade Ihr Vollzeitjob?
M. Emmenegger-Müller: Eigentlich mache ich das alles nebenbei. Vorwiegend bin ich zu Hause und kümmere mich um den Haushalt und die Kinder. Meine Frau geht ausser Haus arbeiten. Zu Beginn waren die Organisationen und die ehrenamtliche Arbeit ein Ausgleich zu meinem Therapiealltag. Aber auch jetzt ist es kein «Job» – ich muss nicht an allen Terminen teilnehmen und kann mir meine Zeit so einteilen, wie es gesundheitlich möglich ist. Mit Dr. Daniel Black teile ich mir das Präsidium des Vereins. Er ist ein ebenbürtiger und aktiver Kollege, der sich vor allem um die Vernetzung im In- und Ausland kümmert.
Andere Patientenorganisationen berichten von Nachwuchsproblemen. Gibt es die bei «Leben mit Lungenkrebs» auch?
M. Emmenegger-Müller: Bisher haben wir keine Probleme mit dem Nachwuchs. Wir arbeiten mit vielen Freiwilligen, zum Beispiel mit professionellen Dolmetscherinnen, die zwischen Deutsch, Italienisch und Französisch übersetzen, und einem Marketingleiter, der sich auch in seiner Freizeit für uns einsetzt. Wir sind als Organisation neu: Die Leute haben schnell gemerkt, dass sie bei uns ihre Ideen einbringen können. Wir konnten vieles gemeinsam umsetzen und besprechen und waren immer offen für Vorschläge. Wir waren dankbar für jedes Engagement.
Aber langsam haben auch wir etablierte Strukturen und die Mitarbeit wird vielleicht weniger interessant für junge Menschen, weil sie nicht mehr so viel entwickeln können. Die Flyer sind entworfen, das Programm steht, die Kooperationen sind gestaltet – das kann abschreckend wirken.
Wo engagieren Sie sich noch?
M. Emmenegger-Müller: Ich bin auch im Patientenrat des Comprehensive Cancer Center, im Vorstand von SwissCAPA , Mitglied der PPI-Gruppe der Uni Bern und in diversen Arbeitsgruppen zum Thema «Low-Dose CT Lunge» in der Schweiz.
Wie würden Sie den Fokus auf Patient:innen in der Schweiz einschätzen?
M. Emmenegger-Müller: In den letzten Jahren hat sich einiges getan. Zum Beispiel werden Patientinnen und Patienten immer mehr für die Partizipation an Studien angefragt. Vonseiten der Medizin ist das Bedürfnis nach einem Austausch mit Betroffenen inzwischen hoch. Natürlich ist der Austausch noch ausbaufähig, aber ich denke, wir sind auf einem guten Weg.
Wie war Ihre persönliche Erfahrung mit den Prozessen in der Onkologie?
M. Emmenegger-Müller: Ich wurde ab meiner Diagnose sehr gut informiert und aufgeklärt. Ich konnte die Ärzte und Ärztinnen alles fragen, und sie haben mir auch umgehend geantwortet. Sie haben sich Zeit genommen, selbst wenn sie einen anschliessenden Termin hatten. Dadurch, dass ich so gut informiert wurde, habe ich mich überhaupt erst für eine Therapie entschieden. Erst mit der Gründung von «Leben mit Lungenkrebs» habe ich gemerkt, dass einige Personen sehr unzufrieden mit ihren behandelnden Ärzten und Ärztinnen sind.
Sind die Stigmatisierung und die Schuldzuweisung bei Lungenkrebs stärker als bei anderen Krebsarten?
M. Emmenegger-Müller: Ja. Gerade bei älteren Patienten und Patientinnen, die ihr Leben lang geraucht haben, schwingt oft mit, dass sie ihre Erkrankung selbst verursacht haben könnten. Das führt so weit, dass sie eine Therapie verweigern, weil sie denken, dass sie ja selbst schuld an ihrer Situation sind. Die Schamgefühle sind gross.
Ist es manchmal schwierig, mit Lungenkrebs in der Öffentlichkeit zu stehen?
M. Emmenegger-Müller: Ja. Als Vertreter einer Patientenorganisation bekommen wir viel Unterstützung, aber wir erleben auch das Gegenteil: Manchmal werden wir angefeindet, weil wir mit dem Thema Lungenkrebs in die Öffentlichkeit gehen. Uns wird vorgeworfen, dass wir davon profitieren und mit Lungenkrebs Werbung machen wollen. Bei Brustkrebs ist es zum Beispiel ganz anders, da gilt es als mutig, über die eigene Erkrankung zu sprechen.
Auf einer Expo in Zürich, bei der wir einen Stand für «Leben mit Lungenkrebs» hatten, wurde uns vorgeworfen, dass wir ja nur Lungenkrebs hätten, weil wir geraucht hätten. Es zirkulieren sehr viele falsche Informationen. Viele wissen nicht, dass jeder Mensch Lungenkrebs bekommen kann, unabhängig vom Rauchen.
Gibt es spezifische Kampagnen zur Entstigmatisierung von Lungenkrebs?
M. Emmenegger-Müller: Wir versuchen, Menschen zu informieren. Aber wir arbeiten auch intensiv mit Rauchstopp-Programmen zusammen. Gerade langjährige Raucher und Raucherinnen haben oft das Gefühl, dass es keine Rolle spielt, ob sie aufhören oder nicht. Das stimmt nicht. Und da werden wir aktiv. Wir fördern Lungenscreenings und arbeiten mit der Stiftung für Lungendiagnostik zusammen, damit Menschen, die zur Risikogruppe für Lungenkrebs gehören, einen guten und einfachen Zugang zu Screenings haben. Momentan müssen Interessierte in der Schweiz die Screenings noch selbst finanzieren und organisieren.
In der Schweiz gibt es leider auch noch eine riesige Tabaklobby und kein grosses Interesse, Lungengesundheit zu fördern.
Was würden Sie in Retrospektive anderen Familienvätern mit Krebs raten?
M. Emmenegger-Müller: Ein offenes Gespräch mit dem Umfeld war für mich zentral. Und auch, es aktiv zu suchen. Bei Lungenkrebs gibt es wie gesagt noch viel Stigmatisierung, und auch in meinem Umkreis hatten Menschen die Frage, ob meine Krebserkrankung darauf zurückzuführen war, dass ich früher geraucht habe. In meinem Fall gab es keinen Zusammenhang, aber es war wichtig, dass ich das auch von mir aus angesprochen habe.
Ausserdem habe ich im Gespräch mit anderen Menschen oft herausgefunden, was ich gerade brauche und was mir gut tut – auch wenn ich vor den Gesprächen oft keine Lust auf den Austausch hatte.
Was möchten Sie Schweizer Onkolog:innen mitteilen?
M. Emmenegger-Müller: Ich möchte ihnen eine grosse Anerkennung für die Arbeit aussprechen, die sie leisten. Sie kümmern sich um Patienten und Patientinnen, informieren, nehmen sich Zeit und arbeiten nebenbei auch noch für die klinische Forschung. Davon profitieren wir alle.
Der SAKK-Patientenrat
Der Patientenrat der SAKK wurde 2015 gegründet und hat zehn Mitglieder. Seine Ziele sind:
die Kommunikation zwischen Forschenden und Patient:innen zu verbessern
Patient:innenbedürfnisse zu identifizieren, damit die Prioritäten bei Forschungsvorhaben patient:innenorientierter angelegt werden
die Aufklärung von Erkrankten bei einer Studienteilnahme zu verbessern
die Bedürfnisse der Teilnehmenden bei der Entwicklung von klinischen Studien und klinischen Fragestellungen vermehrt zu berücksichtigen
längerfristig innovative Therapien bereitzustellen, die optimal auf Patient:innenbedürfnisse ausgerichtet sind
die Betroffenen zu motivieren und zu ermutigen, an klinischen Krebsstudien teilzunehmen
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