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Das Gehirn gesund halten

Resilienz und kognitive Reserve

Bereits 1998 wurde in einer Studie festgehalten, dass eine Verzögerung des Ausbruchs von Demenz um nur fünf Jahre einen Rückgang der Demenzprävalenz von 50% bewirken könnte.1 Die Konzepte der Resilienz im Allgemeinen und der kognitiven Reserve im Speziellen scheinen ein gewisses Potenzial zu bieten, den Beginn einer Demenzerkrankung aufschieben zu können und hätten damit positive Auswirkungen auf die Lebenserwartung und Lebensqualität, insbesondere im Alter, zur Folge. Eine intensive und qualitativ hochwertige Beschäftigung mit dem Erhalt der eigenen Gehirngesundheit stellt bereits einen wesentlichen Baustein der eigenen Resilienz und kognitiven Reserve dar.

Keypoints

  • Die Konzepte der Resilienz und der kognitiven Reserve können durch ihre genuine Betonung der aktiven Auseinandersetzung mit alltäglichen (kognitiven) Herausforderungen ein gewisses Maß an Kontrolle über eine bedrohliche Vorstellung ermöglichen, wie sie für viele ein Abnehmen der kognitiven Funktionen darstellt.

  • Trotz uneinheitlicher Ergebnisse verschiedener Studien, insbesondere zur kognitiven Reserve, die vermutlich auch methodischen Unterschieden geschuldet sind, kann vom Erhalt bzw. weiteren Aufbau der kognitiven Reserve im Zuge eines gesunden und bewussten Lebensstils im (beruflichen und privaten) Alltag nicht abgeraten werden.

  • Die aktive Umsetzung eines derartigen Lebensstils beinhaltet u.a., sich kognitiv anspruchsvollen Inhalten, sportlichen und sozialen Aktivitäten mit interessanten Menschen zu widmen, und sollte so intensiv und so früh wie möglich, im besten Falle lange vor einer ersten neuropathologischen Symptomatik, praktiziert werden, um sich die eigene Resilienz und kognitive Reserve erhalten zu können, und sollte in eine (frühzeitige) neurowissenschaftlich basierte, moderne neurologische (inkl. neuropsychologische) Diagnostik und Behandlung eingebettet sein.

Wer interessiert sich für das eigene Gehirn? Und warum?

Das Interesse an der Gesundheit bzw. am Erhalt von gesunden Funktionen des eigenen Gehirns scheint nicht nur bei einschlägigen Expert:innen, sondern auch in der Allgemeinbevölkerung vorhanden zu sein, wie eine umfassende Onlinestudie des „Lifebrain-Konsortiums“ zeigt.2 Carver et al. 20222 befragten 27590 Personen u.a. dazu, wie hoch ihre Bereitschaft wäre, sich einem „einfachen (z.B. medizinischen/psychologischen/…; Anm.) Gesundheitstest für das Gehirn“ zu unterziehen, „um das Risiko der Entwicklung einer Krankheit zu erfahren“. Die Ergebnisse wiesen auf eine sehr hohe Bereitschaft hin (91%), sich (definitiv bzw. wahrscheinlich) einem einfachen Gesundheitstest zu unterziehen bzw. auch dann (86%), wenn der Test Informationen über eine Krankheit liefert, die nicht verhindert oder behandelt werden kann. Zu den wichtigsten Gründen für eine Teilnahme an einem derartigen Gesundheitstest zählten das Generieren von Informationen über die eigene kognitive und psychische Gesundheit bzw. über das individuelle Risiko, eine neurologische Erkrankung zu bekommenen sowie die Gelegenheit zu haben, durch medizinische Unterstützung adäquat auf dieses Risiko reagieren zu können. Dazu passend waren die häufigsten genannten Reaktionen auf das antizipierte Testergebnis: „Änderung des Lebensstils“, „Inanspruchnahme ärztlicher Unterstützung“, „Planen der Zukunft“, „Beschaffen von Informationen (online, Bibliothek, …) sowie das „Einholen von Rat bei Familie und Freunden“.

Die genannten Gründe für die Teilnahme an einem derartigen Gesundheitstest und die Reaktionen auf das antizipierte Testergebnis weisen auf ein Verhalten hin, das einer individuellen Resilienz „als Fähigkeit, mit Schwierigkeiten und Rückschlägen gut umgehen zu können, indem man versucht, sich bestmöglich an die unterschiedlichsten Veränderungen im Leben anzupassen“3,4 ähnlich ist. Nach Stern et al. 20205 kann Resilienz als allgemeinerer Begriff verstanden werden, der sich auf mehrere Prozesse bezieht. Fokussiert man hingegen auf einzelne Prozesse, die zur Anpassung von negativen Ereignissen in Bezug auf die Gehirngesundheit angedacht werden können, können die oben genannten Verhaltensweisen u.a. der (aktiven) kognitiven Reserve (KR) als „Anpassungsfähigkeit (d.h. Effizienz, Kapazität, Flexibilität) von kognitiven Prozessen, die dazu beiträgt, die unterschiedliche Anfälligkeit von kognitiven Fähigkeiten oder der alltäglichen Funktion gegenüber Hirnalterung, Pathologie oder Schädigungen zu erklären bzw. zu verstehen“5, zugeordnet werden.

Interessanterweise wird je nach Schwerpunkt der abzuleitenden Empfehlung beiden Konstrukten (Resilienz und KR) die sogenannte „Nonnenstudie“6,7 zugeschrieben – eine Längsschnittstudie über das Altern und mögliche Faktoren der Alzheimerdemenz, in der ab 1986 über 600 amerikanische Ordensschwestern im Alter von 76 bis 107 Jahren untersucht wurden. Die Hauptergebnisse zeigten, dass es im Allgemeinen keinen Zusammenhang zwischen pathologischen Gehirnbefunden und der wiederholt erhobenen intellektuellen Leistungsfähigkeit gab, hingegen im Speziellen bei Personen, die post mortem stark veränderte Gehirnbefunde aufwiesen, die Fähigkeit, bis zu ihrem Tod geistig anspruchsvolle Aufgaben ausführen zu können, erhalten blieb. Snowdon6,7 führte dies u.a. darauf zurück, dass die Ordensschwestern ein sehr aktives, vor allem soziales Leben praktizierten, sie gebildet waren und häufig in Berufen arbeiteten, die ein hohes Maß an geistiger Aktivität erforderten, wie etwa Erzieherinnen und Lehrerinnen, täglich physische Aktivitäten als festen Bestandteil in ihren Tagesabläufen durchführten sowie insgesamt über einen sehr langen Zeitraum eine hohe Homogenität in ihrer Lebensführung (z.B. Ernährung, Schlafverhalten) zeigten. Die fehlende Übereinstimmung zwischen dem Ausmaß an zerebraler Neuropathologie und jenem an kognitiven oder funktionellen Beeinträchtigungen (s. dazu auch Pettigrew, Soldan 2019)8 in der „Nonnenstudie“ wird u.a. durch ein höheres Ausmaß an KR erklärt.

Das Konstrukt der kognitiven Reserve

Die Variabilität der KR lässt sich nach Stern et al. 20205 auf individuelle kognitive oder funktionelle Hirnprozesse zurückführen, die durch das Zusammenspiel von angeborenen Unterschieden und lebenslangen Expositionen beeinflusst werden können. Die KR kann demnach nicht als starr oder unveränderlich verstanden werden. Zwei unterschiedliche Konzepte der KR werden diskutiert, sind im Wesentlichen als strukturelle und funktionelle Korrelate der KR beschreibbar und werden als aktive versus passive KR9 oder als aktive KR und Gehirnreserve5 bezeichnet.

Die KR als aktives Reservemodell bedeutet, dass dynamische kognitive und zugrunde liegende funktionelle Gehirnprozesse (als Ergebnis von spezifischen Lebenserfahrungen) herangezogen werden, um Gehirnveränderungen oder Schäden zu bewältigen bzw. zu kompensieren. Es wird angenommen, dass individuelle Unterschiede in kognitiven Prozessen die Anpassung an alters- oder krankheitsbedingte Gehirnveränderungen beeinflussen können. Die aktive KR kann sich demnach als dynamisch reagierendes neuronales Netzwerksystem an steigende Anforderungen anpassen und beispielsweise Hirnschädigung durch effizientere Aktivierung von Netzwerken, die auch bei gesunden jungen Menschen bei gleich schweren Aufgaben beansprucht werden, durch Neurekrutierung von kompensatorischen Netzwerken in anderen Hirnarealen und/oder durch eine effizientere Deaktivierung von störenden Netzwerken (s. PASA „posterior-anterior-shift in aging“ oder HAROLD „hemispheric asymmetry reduction in older adults“) kompensieren.5,9 Die passive KR oder Gehirnreserve wird als neurobiologisches Kapital verstanden (z.B. Anzahl von Neuronen, Synapsen etc.) und die individuelle Bewältigung von Alterung und Pathologie des Gehirns wird durch Unterschiede in strukturellen Eigenschaften des Gehirns vor klinischen oder kognitiven Veränderungen erklärt. Es wird angenommen, dass kognitive oder funktionelle Defizite erst nach Erreichen einer bestimmten Schwelle (siehe Schwellenkonzept) auftreten.5,9 Beide Konzepte ergänzen sich vermutlich und vereinfacht könnte die passive KR als Hardware- und die aktive KR als Softwarekomponente (mit der Unschärfe, dass auch kognitive Funktionen eine biologische Grundlage haben)5 verstanden werden.

Insgesamt wird hinsichtlich des Konzepts der KR angenommen, dass sich bestimmte Lebenserfahrungen, in Kombination oder Interaktion mit genetischen Faktoren, positiv oder negativ auf (a) die Gesundheit des Gehirns (weit gefasst; einschließlich, aber nicht beschränkt auf Struktur, Funktion, Gefäßsystem, Stoffwechsel, neurochemische Übertragung und das Auftreten oder die Geschwindigkeit der Akkumulation von Pathologien) und b) die Fähigkeit des Gehirns, mit Alterung und Pathologie (bis zu einer bestimmten Schwelle) umzugehen, auswirken können.5,8 In Zusammenhang mit einer Hirnpathologie ist das Konzept der KR derart zu verstehen, dass eine durchschnittliche KR bei einem gegebenen Grad von Hirnpathologie zu einer durchschnittlich ausgeprägten klinischen Symptomatik führt, eine hohe KR beim selben Grad der Hirnpathologie zu schwächeren sowie eine geringe KR beim selben Grad der Hirnpathologie zu stärker ausgeprägten klinischen Symptomen führt.9 Nach Stern 200910 müsste die Anpassungsfähigkeit, die durch ein höheres Maß an KR bestimmt wird, mit (1) einer höheren kognitiven Leistungsfähigkeit vor dem Einsetzen des kognitiven Verfalls, (2) einer Verzögerung des Ausbruchs des krankheitsbedingten kognitiven Abbaus zusammenhängen, aber auch mit (3) einer schnelleren Rate des kognitiven Verfalls in Verbindung gebracht werden, wenn die Neuropathologie ein Niveau erreicht hat, das schwerwiegend genug ist, um die kognitive Funktion zu beeinträchtigen, weil sie in der Lage ist, ein größeres Ausmaß an Neuropathologie zu kompensieren.

Die methodischen Ansätze zur Erfassung einer allfälligen Bedeutung der KR (aktiv, passiv) bzw. der Gehirnreserve (alternativ zum Begriff der passiven KR) für die Gehirngesundheit sind vielfältig, haben unterschiedliche methodische Vor- und Nachteile5,8 und umfassen mit unterschiedlichen Schwerpunkten Querschnitt- und Längsschnittstudien, Trainingsstudien, Biomarkerstudien sowie epidemiologische Studien im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter mit klinischen und/oder gesunden Stichproben, die mitunter durch multizentrische und multidisziplinäre Kooperationen (siehe u.a. 1000-Gehirne-Studie, Lifebrain-Studien) gekennzeichnet sind. Insgesamt zeigen die Studien zwar uneinheitliche Ergebnisse, die vermutlich auch auf Unterschiede in der Verwendung von Terminologien, Operationalisierungen der Variablen „aktive KR“ und „passive KR/Gehirnreserve“ zurückzuführen sind, jedoch liefern diese Studien so weit positive Ergebnisse, dass von einer Beschäftigung mit der eigenen KR nicht abgeraten werden kann. Interessant erscheinen insbesondere Studien, die kombiniert funktionelle und strukturelle Grundlagen der KR (als aktive und passive KR oder Gehirnreserve) im Rahmen von Längsschnittstudien untersuchen sowie hinsichtlich der aktiven KR umfassendere und innovativere Erhebungen (anstelle der Verwendung der Bildungsjahre als „unkomplizierte und bequeme Proxy-Variable“, die etwa nicht die Qualität der Ausbildung oder des späteren beruflichen Niveaus abbilden kann), oftmals über die gesamte Lebensspanne, umsetzen. Fratiglioni et al. 200411 (siehe auch Fratiglioni et al. 2020)12 halten in ihrem Review fest, dass alle drei Komponenten des Lebensstils (sozial, kognitiv und körperlich) positive Auswirkungen auf das Demenzrisiko haben und die meisten Aktivitäten nicht eindimensional sind, sondern über mehrere Wege vorteilhaft sein können: Soziale Interaktionen können kognitiv stimulierend sein und körperliche Gruppenaktivitäten können soziale und/oder kognitive Komponenten haben, wobei der Vielfalt oder Anzahl der Aktivitäten im Vergleich zu einer bestimmten Art von Aktivität der Vorzug gegeben wird13 sowie ein lebenslanges kognitives und soziales Engagement gelebt werden sollte, da etwa auch ein höheres Alter bei der Pensionierung mit einem geringeren Demenzrisiko korreliert.14

Wie kann die kognitive Reserve erhalten werden?

Unter anderem aus dem Whitepaper von Stern et al. 20205 lässt sich für den Aufbau und Erhalt der Resilienz und der KR ableiten, dass diese unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Komponenten der Gehirngesundheit durch Praktizieren einer gesunden und bewussten Lebensführung erfolgen sollten. Während jeder Person eine KR inhärent ist, ist doch das Ausmaß der KR im Endeffekt entscheidend. In allen alltäglichen Situationen ist eine Entscheidung für den Erhalt oder Ausbau der KR möglich, indem beispielsweise beim Konsum von Medien (z.B. bei der Wahl der Tageszeitung oder der konsumierten Fernsehsendungen) kognitive Qualität kognitivem „Ramsch“ (vorzugsweise automatisiert) vorgezogen wird. Dabei sollte u.a. die Art der kognitiven Beschäftigung – oberflächliches „Berieselnlassen“ vs. aufmerksame, lange und intensive Beschäftigung im Sinne der Tiefenverarbeitung (siehe synaptisches Lernen, Langzeitpotenzierung bzw. Hebb’sche Regel) – sowie die Vielfalt an (vorzugsweise neuen) kognitiv zu verarbeitenden Inhalten, idealerweise aller neurokognitiven Domänen (siehe DSM-5-TR), berücksichtigt werden, unterstützt durch eine Vielzahl an Medien, wie u.a. edukative Bücher (z.B. Carter 202215, Brennan 202216) oder Kulturprogramme (Theaterbesuche, Museen etc.) und auch „modernere“ Medien, wie z.B. Videos, Spiele (z.B. IQ-Reihe, Brains-Reihe, Thinkfun-Reihe) oder Apps.

1 Brookmeyer R et al.: Projections of Alzheimer’s disease in the United States and the public health impact of delaying disease onset. Am J Public Health 1998; 88(9): 1337-42 2 Carver RB et al.: People’s interest in brain health testing: findings from an international, online cross-sectional survey. Front Public Health 2022; 10: 998302 3 Eriksson M, Lindström B: Life is more than survival: exploring links between Antonovsky’s salutogenictheory and the concept of resilience. In: Gow KM, Celinski MJ (Hrsg.): Wayfinding through life’s challenges: coping and survival. New York: Nova Publishers, 2011. 31-46 4 http://www.resilience-project.eu/index.php-id=2.html , abgerufen am 15.7.2024 5 Stern Y et al.: Whitepaper: defining and investigating cognitive reserve, brain reserve, and brain maintenance. Alzheimers Dement 2020; 16(9): 1305-11 6 Snowdon D: Aging with grace: what the nun study teaches us about leading longer, healthier, and more meaningful lives. New York: Bantam 2001 7 Snowdon DA: Healthy aging and dementia: findings from the nun study. Ann Intern Med 2003; 139(5 Pt 2): 450-4 8 Pettigrew C, Soldan A: Defining cognitive reserve and implications for cognitive aging. Curr Neurol Neurosci Rep 2019; 19(1): 1-12 9 Perneczky R et al.: Kognitive Reservekapazität und ihre Bedeutung für Auftreten und Verlauf der Demenz. Nervenarzt 2011; 82(3): 325-35 10 Stern Y: Cognitive reserve. Neuropsychologia 2009; 47(10): 2015-28 11 Fratiglioni L et al.: An active and socially integrated lifestyle in late life might protect against dementia. Lancet Neurol 2004; 3(6): 343-53 12 Fratiglioni L et al.: Ageing without dementia: can stimulating psychosocial and lifestyle experiences make a difference? Lancet Neurol 2020; 19(6): 533-43 13 Carlson MC et al.: Lifestyle activities and memory: variety may be the spice of life. The women’s health and aging study II. J Int Neuropsychol Soc 2012; 18(2): 286-94 14 Dufouil C et al.: Older age at retirement is associated with decreased risk of dementia. Eur J Epidemiol 2014; 29(5): 353-61 15 Carter R: So bleibt Ihr Gehirn fit: mit vielen praktischen Inspirationen für einen aktiven und gesunden Geist. München: DK, 2022 16 Brennan S: In 100 Tagen zu einem jüngeren Gehirn: Gedächtnis stärken, Konzentration verbessern und Demenz verhindern. München: Goldmann, 2022

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